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Letzte Rauhnacht

Es spricht Frau Percht:

„Ich bin, die ich bin,

die war,

die ist,

die immer sein wird.

In den Sommern lebe ich in den Bergen, in den Wintern wandle ich zwischen den Welten, ich steige in die Unterwelt hinab und fliege über den Himmel. Stets begleiten mich starke Kräfte durch Zeiten und Räume, Ihr nennt sie „Dämonen“, manche sagen „Engel“.

Ich sammle verirrte Seelen ein und trage sie in meinen Apfelgarten. Stets ist mein Rucksack voll davon, die einen wollen hinein, die anderen hinaus, ich gehe von Haus zu Haus.

Aus meinem Apfelgarten stammt Ihr alle und dorthin werde ich Euch wieder tragen, wenn Eure Stunde gekommen ist.

Ihr habt mir viele Namen gegeben, Ihr habt mich angebetet, verteufelt und vergessen.

Ich aber bin, die ich bin.

Alles dreht sich im Kreise nach ewiger Weise

und

das Ende hat stets den Anfang im Mund.

Heute Nacht werde ich zu Licht .

Achte gut auf Deine Wünsche, sie könnten in Erfüllung gehen!“

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Schlankeltage…

Heute ist die sechste Rauhnacht. In der Zeit dieser heiligen Zaubernächte haben schon die Altvorderen Vorkehrungen getroffen zur Abwehr der Dämonen, die um diese Zeit angeblich Haus und Hof, Mensch und Getier besonders bedrohen. Warum grad um diese Zeit , in diesen „Schlankeltagen“, wo alles ein wenig baumelt, „schlankelt“, nichts mehr austariert scheint zwischen Leben und Tod, ja, der Tod schlankelt mit, er lächelt freundlich, wie auch das Leben und alles dazwischen…also die Geschicke und die Räume für das Neue Jahr noch nicht zugeteilt wurden? Es ist mir ein Rätsel, warum in den Rauhnächten so eine Art Brennglas auf das, was wir „unser Leben“ nennen, gerichtet zu sein scheint, oder ist es ein überirdisches Vergrößerungsglas? Der Schmerz tut mehr weh, die Sehnsucht sehnt mehr, die Verluste brennen größere schwarze Löcher, auch längst abgelegte Sorgen sorgen sich wieder heftig, der Schlaf wird unruhiger, schwer wiegen Alter und Verfall der Körperlichkeit  und die verpassten Chancen verpassen sich erneut in den Nächten, in denen die Angst durchs Haus schleicht.

Und gleichzeitig passiert es, daß ich aus dem Stapel der Weihnachtswunschbücher „Alles hat seine Zeit“ von Karl Ove Knausgard herausziehe und mir sofort am Anfang ein Satz entgegenspringt, in dem steht, daß die Engel wahrscheinlich nur deshalb nicht in der Schöpfungsgeschichte vorkommen, weil sie schon vorher da waren! Während ich dem nachsinne, schwebt plötzlich von irgendwoher nach irgendwohin ein kleines weißes Federl durch den Raum. Und vor Glück fange ich an, zu weinen.

Und als Pagophila mir rät, der Kleinen „Lichtgestalt“ auf den Fersen zu bleiben, da seh ich sie wieder, als wäre es gestern gewesen, hier in diesem alten Haus in der Kammer über der Küche…ich muß ganz klein gewesen sein, ein paar Jahre alt, also nahezu vor 60 Jahren…da hatten wir Besuch, der über Nacht blieb, die zwei Kinder schliefen bei mir im Zimmer und da, mitten in der Nacht wachte ich auf, weil es plötzlich so hell war, so anders hell, es brannte kein Licht und da sah ich sie:  eine Gestalt aus weißem Licht beugte sich über eins der Betten und sah auf das Kind hinab…mehr weiß ich nicht. Niemand hat es je geglaubt, nur ich weiß, daß ich es gesehen habe. Ich kann es mir nicht erklären, es war einfach so und es machte mir keine Angst, obwohl ich ein sehr ängstliches Kind war.

Ja, das Projekt E. wird fortgesetzt, grade in diesen Zaubernächten will ich vermehrt horchen, nach außen und nach innen.

Ich bekomme den Hinweis, daß meine Mutter, die so außer Rand und Band war, daß ich mich 15 Jahre mit ihr quälen musste, eine Schwanenjungfrau war in Wirklichkeit und nicht hierher gehörte. Das würde nicht nur ihr plötzliches, tödliches Verschwinden erklären… ich muß dieses Märchen suchen…

Es schneit und schneit, wilde Stürme brausen ums Haus, es rüttelt und schüttelt sich das alte Gebälk.

Die uralte, wilde, ungestüme Frau Percht in ihrer Wintergestalt ist aus den Bergen, dort wo sie im Sommer wohnt, herabgestiegen und hat ihr wildes Heer um sich versammelt, sie jagen mit dem Sturmwind übers Land, hinter ihnen bauschen sich die Schneewolken. In ihrem Rucksack holt sie die Seelen der Verstorbenen ab und teilt neue zu. Sie nimmt und gibt, ist grausam und zart, alles gleichzeitig, Tod und Leben, gleichzeitig…immer…

„Seltsam, im Nebel…“

Einmal im Jahr haben auch wir das Meer sozusagen vor der Haustür. Von den steinigen Moränenhängen, auf denen sich die Altvorderen ansiedelten, weil der Gletscher, der das Tal ausschob, nach seinem Rückzug Sumpf und Morast hinterlassen hatte, sehen wir im Herbst auf das Tal hinunter, das sich mit wabernder, nebliger Ursuppe gefüllt hat.

Gar nicht weit muß ich gehen. Dieses Meer ist wie ein unendlich weiter Raum und man kann ihn betreten, es gibt nirgendwo eine Schwelle, ein Ufer oder eine Pforte und doch weiß man plötzlich, wo er beginnt. Ich lasse mich hineingleiten…ein merkwürdiger Zustand, Raum und Zeit verschwimmen, Konturen lösen sich auf im Wasserdampf. Schwaden umhüllen mich, nur langsame Bewegungen, wie in Zeitlupe, wie Gehen auf dem Meeresgrund. Ich verliere völlig die Orientierung, es ist alles so anders, aber ich kann doch gar nicht weit weg sein…da vorne taucht schemenhaft eine Hütte auf…wo kommt die plötzlich her, da war doch gar nichts, bevor das Meer gekommen ist. Vor der Hütte sitzt eine Gestalt, die in der Luft herumfuchtelt. Meine Güte, ich war wohl zu lang im „Murimoos“, dieser Schauergeschichte, die mich ratlos zurückließ, weil der Autor am Schluß auch nicht mehr sicher war, wo er da hingeraten ist.

Es wird mir unheimlich, denn diese Hütte erinnert mich eher an das Haus von Wassilissa im Märchen,  aber wer sitzt dann vor diesem Haus?  Der Nebel wird immer dichter.

Auf einmal stehe ich vor ihr. Da sitzt eine verschrumpelte alte, kleine Frau auf der Hausbank. Sie trägt eine graues Kleid und hat lange graue Haare. In den Händen hält sie eine Art Webrahmen aus Ästen und grade ist sie dabei, die Fäden zu spannen, die sie aus ihren Haaren herauszieht, silbern glänzen sie und dann greift sie in die Luft  und verwebt es sehr schnell, sehr geschickt..

Grüß Gott, sage ich, was webst Du denn da? Was hängt da in der Luft? Bist Du DIE mit den tausend Namen, von der die Alten sagten, daß sie irgendwo sitzt und alles verwebt, ihren Faden mit unseren Träumen und unserer Sehnsucht und unserer Angst, bist Du denn die Frau Holla , die Frau Percht…

Da sieht sie mich an, so tief und dunkel wie die Augen von Neugeborenen und Sterbenden…ich sehe in die unendlichen Tiefen des Universums, es wird mir schwindlig. „Papperlappapp“ sagt sie und springt auf, wirft ihren Webrahmen in die Luft und hinkt davon, plötzlich macht sie einen Luftsprung und lacht und lacht und verschwindet.

Der Nebel lichtet sich, das Meer zieht sich vorerst zurück, die Sonne trocknet den Meeresboden.

Dieses glockenhelle, fröhliche Lachen eines jungen Mädchens…